01 Aug 2020

Plädoyer Muster nomos

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Trotz notwendiger Kritik am gegenwärtig zunehmend autoritären Regierungsstil der Regierung (Isidoro Losada 2015), verdeutlicht das Beispiel Venezuelas dennoch, dass Rentier-Staaten keineswegs inkompatibel mit demokratischen Herrschaftsmustern sind. Die Erfahrungen in Venezuela seit Mitte des 20. Jahrhunderts stehen beispielhaft für die Möglichkeit eines demokratischen Rentismus in Erdölstaaten und verdienen gerade deswegen eine stärkere Beachtung durch die Rentenforschung. So zielt die aktuelle Regierung mit verschiedenen Maßnahmen etwa auf die Schaffung basisdemokratischer Strukturen mittels der Förderung von Kommunalräten und Kommunen. Zwar bestehen berechtigte Zweifel hinsichtlich der Autonomie dieser partizipativen Mechanismen gegenüber dem Regierungsprojekt (Eaton 2014; Isidoro Losada 2015); sie zeigen dennoch, dass mechanistische Vorstellungen über den Zusammenhang von Renteneinnahmen, Autoritarismus und fehlenden Partizipationsmöglichkeiten bequeme Simplifizierungen gegenüber der Auseinandersetzung mit komplexen Realitäten vorziehen. Der Beginn der Erdölförderung induzierte in Venezuela einen beschleunigten Wandel von Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur. Während die Bedeutung der Landwirtschaft zurückging, ermöglichten die Erdölförderung und die Politik der Rentendistribution dem Land bis zum Ende der 1970er Jahre ein kräftiges Wirtschaftswachstum, eine beschleunigte Urbanisierung, eine langsam einsetzende Industrialisierung, die Entstehung einer vergleichsweise breiten Mittelschicht, die Etablierung westlicher Konsum- und Distinktionsmuster sowie die sukzessive Verbreiterung der Staatsklasse. In der langen Phase relativer Prosperität zwischen den 1920er und 1970er Jahren profitierten (fast) alle gesellschaftlichen Gruppen in absoluten Zahlen vom Rentenzufluss. Allerdings taten sie dies in ungleicher Form: Während die wohlhabenden ihren privilegierten Zugang zur Erdölente verteidigen konnten, haben insbesondere ländliche Regionen und die urbanen Armutsbevölkerung nur indirekt und/oder in geringem Maße vom Erdölreichtum profitiert. Die Rentenverteilung trug so maßgeblich zur (Re-)Produktion von Ungleichheitsstrukturen und Machtverhältnissen bei, die sich im Nebeneinander von Opulenz und Armut manifestierten (Chossudovsky 1977; Tinker Salas 2015: 108 ff.).

Dennoch schienen die typischen Charakteristika des Rohstofffluches bis zum Ende des Erdölbooms der 1970er Jahre weit entfernt. Stattdessen stieg der Staat zum entscheidenden Entwicklungsagenten auf, dem magische Fähigkeiten nachgesagt wurden und der das Land dank der Renteneinnahmen endgültig in die Moderne katapultieren wollte (Coronil 1997). Seit dem Elitenpakt von Punto Fijo (1958) fußten diese wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungserfolge zudem auf einer stabilen (liberal-) demokratischen Ordnung. Das Beispiel Venezuelas zeigt also, dass Rentier-Staaten keinesfalls qua Naturgesetz zu politischem Autoritarismus verdammt sind (Dunning 2008). Zwar mangelte es nicht an kritischen Stimmen zur Funktionsweise der venezolanischen Demokratie (Azzellini 2010: 29 ff.; Buxton 2011: xv), angesichts der Skepsis der Rententheorie bezüglich der Möglichkeit der Entstehung demokratischer Strukturen sowie des von Militärdiktaturen geprägten Kontext Lateinamerikas in den 1960er bis 1980er stellt die Entstehung und Stabilität der Demokratie in Venezuela gleichwohl eine bemerkenswerte Ausnahme eines demokratischen Rentismus dar, der bis Ende der 1970er Jahre auch beeindruckende Entwicklungserfolge vorweisen konnte. Die These der Stabilität autoritärer Herrschaftsmuster wird vom Beispiel Angolas zumindest teilweise herausgefordert. Zwar regiert der amtierende Präsident José Eduardo dos Santos das Land bereit seit 1979, das (post-)koloniale Angola befand sich jedoch bis 2002 in einem fast vier Jahrzehnte währenden Bürgerkrieg, der die Herrschaftsstabilität beständig herausforderte und eine ‚turbulente Stabilität‘ begründete.12 Gleichzeitig verschärfte der Kriegszustand die extreme Abhängigkeit des Landes von Erdöl und die geringe Bedeutung alternativer Wirtschaftszweige.

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